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Man erkannte ihn schon von weitem, selbst wenn man ihn nicht hörte. Sein schlaksiger Gang, bei dem die Beine miteinander zu konkurrieren schienen, gehörte zu ihm wie die Laute, die er ausstieß. Ohne seinen grauen Stoffbeutel verließ er nie das Haus. Mit unkontrollierten Bewegungen schleuderte er diesen beim Laufen hin und her, als wolle er ihn abschütteln.

"Dea Sepp, dea Sepp, deam sog i’s!“, brüllte er. Ärgerte man ihn, schimpfte er noch ärger: „Holts Muel! I sogs deam Burgermeischter, deam Sepp …!“

Der Bürgermeister schien ihm der einzig Wohlgesonnene im Ort, nachdem der die Familie einmal daheim besucht hatte. Damals sollte sie in ein anderes Haus ziehen. Mutter weinte viel in der Zeit. Sepp versprach zu helfen. Zacharias verstand bis heute nicht, dass er in diesem Moment dem Vermieter gegenüber gestanden hatte. Aber sie durften bleiben. Das vergaß er nie.

 

Viel gehörte nicht dazu, ihn zu reizen. Es reichte, wenn man „Lulatsch“ aus dem Fenster rief und sich hinter den Gardinen versteckte. Ein Spießrutenlauf für Zacharias!

Alle wussten: Er holte die tägliche Ration Bier für den Vater. Mindestens einmal am Tag lief er die Gasse hinunter in die Stadt.

Zacharias lebte zurückgezogen mit seinen Eltern. Die Leute des Ortes mieden die Familie. Sie schimpften seinen Vater hinter vorgehaltener Hand einen cholerischen Säufer. Zudem würde er seine Frau zum Putzen der Büros im Altenheim zwingen. Mit so einem Pack wolle man nichts zu tun haben!

Die beiden älteren Brüder waren früh fortgezogen. Zacharias blieb. Wo sollte er auch hin?

 

Freunde hatte er keine, außer Knut. Der Sohn seines Nachbarn war im gleichen Alter wie er. Früher spielten sie miteinander. Knuts Vater sah es nur ungern, wenn Zacharias’ Mutter vor der Tür stand und seinen Sohn darum bat, mit ihrem Sohn zu spielen.

Seitdem Knut aber in München lebte, waren diese Besuche rar geworden.

Nur zu Feiertagen, wie Weihnachten, grüßte eine Postkarte mit bunten Bildern, die ihm Mutter vorlas. Ein oder zweimalwar Knut in den letzten zehn Jahren vorbeigekommen, um nach seinem Freund zu schauen. In diesem Jahr hatte er wieder eine Postkarte geschrieben. Ob Zacharias ihn noch kenne, fragte er, und ob er ihn kurz besuchen dürfe?

Der Vater nahm keine Notiz. Er hockte am Küchentisch in die Zeitung vertieft.

Der Mutter liefen Tränen über die Wangen. Ihr Jüngster berührte mit zitternden Fingern ihr Haar. Verstand er, warum sie weinte?

 

Knuts Vater stand mit leeren Blicken in der Tür, als sie seinen Hof betrat.

„Am Erschten!“, rief er ihr zu. 

Sie nickte und schluckte vor Freude.

„I dank dir, Nochboar, füa doine Gunscht. Griaß dan Knut. I frei mi auf ian!“

Wortlos hob der seine Hand und machte kehrt. Eine Tür fiel ins Schloss.

Das Hoflicht erlosch.

 

Am Heiligen Abend spürte Zacharias ein ihm unbekanntes Gefühl. Dieses Kribbeln im Bauch kam ihm seltsam vor. Wie ein Gejagter lief er die Treppen des Hauses hinauf und hinunter, umkreiste den Küchentisch, schaute aus dem Fenster. Seine Mutter meinte, es wäre Aufregung, Vorfreude, Ungeduld.

„Morgen siast du 'n Knut wiader“, sagte sie, „I bin g'sponnt, wos aus iam g'worde is“ und zupfte am Kragen seines Hemdes. „Loss uns gehn. Wia sollten pünktlich san.“ Sie nahm seine Hand. „Oaber schau, dass d' net so laut bist.“ 

Ihr Mann blieb im Sessel. Er schwieg. Aus dem Fernseher drang feierliche Musik.

 

Zacharias störte den Gottesdienst nicht mit Rufen. Nur ein einziges Mal zuckte er zusammen. Als Mutter ihren Arm um ihn legte, beruhigte er sich. Heute waren ihm die gemeinen Blicke der Kirchgänger egal. Er genoss es, die Mutter singen zu hören, lauschte den Worten des Pfarrers, die würdevoll durch den Kirchenraum hallten. Weil er keine eigene Kerze halten durfte, führte die Mutter seine Hand zu ihrer hin. Im Widerschein der Flamme funkelten ihre Augen. Wie schön sie war! Zacharias lächelte.

 

Beim Verlassen der Kirche bedankte sich der Pfarrer bei ihnen.

Zacharias verstand nicht, was die Mutter mit diesem Mann redete. Er ging voraus. Ihm war es egal, dass es schneite. Schwere Wolken drückten auf die Gassen. Die Welt um ihn herum  war finster und ungastlich. Nur aus den Fenstern der Häuser drangen warme Farben. 

Ungelenk stolperte er über das Kopfsteinpflaster, rutschte und schaute sich nach der Mutter um. Das Schneetreiben versperrte die Sicht. Wie sie gestrahlt hatte in der Kirche! Er träumte versonnen, als sich ein Schatten von der Kirchenmauer löste.

„Dea Sepp!“, rief er, "Hoalts Muel, dea Sepp. Deam  Burgermeischter, deam sog i’s!“.

Noch einmal gellte sein Ruf durch die Gasse.

„Dea Sepp, deam sog i’s!“

Dann ward es still.

 

In diesem Augenblick schüttelte der Herr Pfarrer ihre Hand.

„Oalles Guate, liabe Fra“. Mit der anderen Hand tätschelte er ihre Schulter. Zacharias Mutter  sah ihn mit festem Blick an. „I bleib stark“, flüsterte sie.

Die Kerzen in der Kirche waren noch nicht erloschen, als ein Hilfeschrei durch die Straßen gellte. Ein Schrei, den diese Stadt noch nie gehört hatte.

Zacharias lag in den Armen der weinenden Frau. Warmes Blut quoll aus einer Wunde seines Hinterkopfes. Der Schnee färbte sich rot. Verwundert starrte er sie an. „Muatter“, flüsterte er und versuchte ihr die Tränen fortzuwischen. Blaulicht befreite die beiden von denen, die sie schweigend umringten.

 

Als Täter wurde ein Drogenabhängiger aus München ermittelt. 

Knut.  

Ende Dezember beerdigten sie das Opfer.

„Er hot doch niamandem woas g'toan!“, klagte eine Dame, die der Presse ein Statement gab, während sie eine Kerze am Tatort entzündete.

In der Silvesternacht schien der Mond. 

Am Neujahrsmorgen fand man Zacharias' Mutter auf der Bank vor dem Grab.

Erfroren.