Kommentar schreiben

Kommentare: 0


1. Schneeflocke

Noch gestern schwamm die Welt in Nebelschwaden,

nachdem die Stürme Laub von Bäumen fegten,
sich erste Fröste unterm Vollmond regten.
(die kniffen probehalber Ohr und Waden).
Zwei Schwäne eilten einmal noch zum Baden
(welch tapfre Schwimmer, ewig unentwegte,
wenngleich sich Dunst auf Wasserflächen legte!)
und ritzten in die glatte See Geraden.
In dieser Nacht zog über Oberflächen
fragiles Eis, um morgens aufzubrechen, 
wo Winde im Verbund durch Schilfrohr wehen.
Die beiden Schwäne kuschelten und schliefen,
um sich in Sommerträumen zu vertiefen
gleich hinterm See, dort bei den wilden Schlehen.


2. Schneeflocke


Gleich hinterm See, dort bei den wilden Schlehen,

ein Schwarm von Raben, feixt und kichert keck.
Doch fliegt er plötzlich auf, erschrocken weg,
titschst du hinein mit deinen nackten Zehen
in jenen Pfuhl, inmitten Tod, Vergehen …
Drauf setzt er nieder sich aufs Achterdeck
von einem Kahn als dichter, schwarzer Fleck
und warnt den späten Gast am Strand mit Krähen:
„Geh nicht hinein, Freund, meide solcherart
Kräxperimente, denn zu oft gepaart
hat sich Freund Hein hier schon mit falschen Feen!“
Du wunderst dich darob, wer wohl parliert? 
Und schaust dich um: „Wer ist’s, der appelliert?“
Durch jene Schleier war fast nichts zu sehen.


3. Schneeflocke


Durch jene Schleier war fast nichts zu sehen;

doch floh der Nebel, darauf schwebten Daunen. 
Des Nachts erklang ein wunderliches Raunen;
man meinte einen Alten zu erspähen.
Sein Bart, den frostige Orkane blähen,
bestrich das Land aus Tausenden Posaunen
und säte Diamanten in die braunen
und scheuen Augen, legte sich zu Rehen.
In Dächertraufen hielt das Fließen inne;
des Lebens Strom starb in der Regenrinne.
Zu Zapfeneis gefroren die Kaskaden
gleich vollen Tränen, die nicht mehr zerrannen.
In einem Hochzeitskleid erstarrten Tannen; 
Die Spuren schwanden auf vertrauten Pfaden.


4. Schneeflocke


Die Spuren schwanden auf vertrauten Pfaden.

Die letzten Spuren, als auch Lebenszeichen
von vielen Lebewesen mussten weichen
(die überwintern, schlafen ohne Schaden).
Anstatt mir blinden Trübsinn aufzuladen,
gedenke ich der Jahre, die sich gleichen,
im Wissen, dass der Lenz ihn bald mit reichen
Gebinden dekoriert, den Blumenladen.
Besiegeln will ich daher den Entschluss,
dass ich hier bleibe, dass ich bleiben muss.
Wo sollt ich hin? Vielleicht auf die Kykladen?
Seit gestern scheinen mir die Sterne nah.
Verwundert hob ich meinen Blick und sah:
Wie Pfeile zogen himmelweit Nomaden.


5. Schneeflocke


Wie Pfeile zogen himmelweit Nomaden

der Sonne folgend, schwärmten gegen Süden.
In Keilen strebten sie, die Nimmermüden;
man zählte oftmals mehr als zehn Brigaden.
Sie rasteten am Ufer bei Arkaden,
die sich am nahen See, der abgeschieden,
aus Weidenzweigen flochten. Und zufrieden
verweilten sie im letzten Beet Kokarden.
Und währenddessen man die Route plante,
lauscht’ ich den wilden Rufen, bis mir schwante:
Sie sahen mich ein wenig abseits stehen.
Und dann? Ich wusste kaum, wie mir geschah!
Sie sangen Lieder mir, Hallelujah ...
Ihr Schrei war bis zum Waldrand zu verstehen.


6. Schneeflocke


Ihr Schrei war bis zum Waldrand zu verstehen.

Das Flügelschlagen brandete im Takt,
hat mich mit sich genommen und gepackt
(ich war schon kurz davor, mit ihm zu gehen).
Doch ohne mich noch einmal umzudrehen
und schlichtweg ohne weitren Blickkontakt,
schlich ich auf leisen, jedoch unverzagt,
auf leisen und auf fluchtgeübten Zehen.
Ihr Rufen drang noch nach in meinen Ohren;
es schwang sich auf zum Flug auf die Azoren.
Des Winters Nahen - kaum zu übersehen -
war weder aufzuhalten, noch zu mildern.
Der Klageton galt diesen neuen Bildern,
er war vielleicht auch Abschiedsgruß an Krähen.


7. Schneeflocke


Er war vielleicht auch Abschiedsgruß an Krähen,

die sie vom Land aus oft gemustert hatten,
zudem ein Gruß inmitten Licht und Schatten,
ein Lebewohl ans hiesige Geschehen. 
Die Gänse, die den Sommer nicht verschmähen,
die munter schnattern über die Rabatten,
erhobnen Kopfes in Gesprächsdebatten,
Konversationen, mehr als sich verstehen,
verlassen nun die einstige Oase.
Sie schmettern kurz vor ihrer Abflugphase
Choräle, übersät mit Grußtiraden,
als wollten sie die Stirn dem Schweigen bieten,
etwas entgegensetzen, uns behüten …
Vor Wochen schon verstummten die Zikaden.


8. Schneeflocke


Vor Wochen schon verstummten die Zikaden.

September färbte Laub, Oktober warf es weit.
Novemberblässe - die Gelegenheit:
Den Jahreslauf verließ sein bunter Faden.
Nun leuchten über unserm Haupt Hyaden,
das „Goldne Tor“ steht offen, hoch und breit.
Wir schweigen ahnungsvoll in dieser Zeit
und wandern feierlich durch die Plejaden.
Gedanklich kehren wir bewusst zurück
ins Jahr, das geht, gedenken Stück für Stück
Vergangnem, zünden Licht um Lichtlein an.
Nun ist die Zeit der Einkehr, Zeit zu schweigen.
Der Mond fiel ins Gestrüpp aus kahlen Zweigen;
die Dämmerung bedeckte Schwan um Schwan.


9. Schneeflocke


Die Dämmerung bedeckte Schwan um Schwan.

Mit ihr verschwand am weiten Horizont
das Ziel. Schier lautlos stieg der blasse Mond,
geruhsam, ohne plumpen Geltungswahn.
Durch Fensterscheiben winkten auf der Bahn
durchs ferne All, was diesem innewohnt:
Mit Sternenfunkeln ward die Sicht belohnt
und Einer dachte an den Ururahn.
Im Sommer fuhr der noch auf blauer See,
trug in den Haaren lang schon reifen Schnee;
er hielt die Ruder fest als Kapitan.
Das Steuer liegt verwaist am alten Steg,
der Alte ging im Herbst den letzten Weg.
Ein wenig rüttelte der Wind am Kahn.


10. Schneeflocke


Ein wenig rüttelte der Wind am Kahn,

erschütterte die abgewetzten Planken.
Wie zum Gefallen und als wollt er danken,
drang eine Melodie aus der Membran.
Berührt begaffte dies ein Kormoran,
der glaubte, dass sich Schwäne dort betranken
und selig in den Abendhimmel wanken.
Er war vom Klang ersichtlich angetan.
Ein wenig rüttelte der Wind noch weiter;
bald fiel er müde von der Himmelsleiter
und nickte ein im schüttren Haselstrauch.
Der späte Vogel musste sich beeilen!
Ihm blieb kaum Zeit, noch weiter zu verweilen:
Dem Nebel folgte kalter Morgenhauch.


11. Schneeflocke


Dem Nebel folgte kalter Morgenhauch.

Ein Heer von unzählbaren Namenlosen
fiel auf die Hecken längst verblichner Rosen
in unsern Garten, auf den Rasen auch.
Daselbst, wo unser Oleanderstrauch
sonst steht: Ein Aufgebot von Pretiosen,
die Ansammlung zerbrechlicher Mimosen,
die uns ans Sein erinnern und an Brauch.
Nicht jede Flocke kann man gar beachten.
In der Gemeinschaft einzig liegt ihr Trachten.
Sie schufen wie zum fassbaren Beweis
ein Bild von Schnee  und hielten sich an Händen.
Und Vater Winter, der aus den Legenden,
er überzog den See mit zartem Eis.


12. Schneeflocke


Er überzog den See mit zartem Eis;

ein Mütterlein legt schnell ein Holzscheit nach.
Es denkt an jenen kalten Winter, ach,
der längst vergangen, auf dem Abstellgleis …
Im letzten Krieg bezahlten sie den Preis:
Der Mann starb nah bei Stalingrad, man stach
ihn einfach, stach ihn ab! Und kurz danach
schloss sich in Blut getaucht der edle Kreis,
der edelste von allen jener Herren.
Noch heute fragt sie sich: Warum denn zerren
die Reichen, dieses gutbetuchte G'schmeiß,
an Mitbewohnern, ihren Artgenossen?
Die Alte grübelt - Antwort ausgeschlossen …
Nun ist die Welt wie’s Schwanenpaar so weiß.


13. Schneeflocke


Nun ist die Welt wie’s Schwanenpaar so weiß

und Himmelslichter funkeln auf den Gassen,
auf Zäunen,  Fenstern, Dächern und Terrassen;
aus warmen Stuben klingt: Kyrieleis …
Geschaffen unter Mühen, mit viel Fleiß,
hat sich der Mensch aufs Ende eingelassen.
In sich gekehrt verstummen die Insassen,
bis endlich einer ruft: „Drum, Freunde, sei’s!
Legt eure Arbeit ab für ein paar Tage
und höret, was ich euch zu sagen wage:
Ein jedes Ende hat sein Ende auch.“
Da dringt ein Lachen, Jubeln durch die Mauern.
Wer will hier endlos schweigen, endlos trauern?
Aus den Kaminen wölkt ergrauter Rauch.


14. Schneeflocke


Aus den Kaminen wölkt ergrauter Rauch.

Gedrungen windet er sich aus der Esse,
verformt sich stet mit stummer Raffinesse
und ähnelt einem aufgeblähten Schlauch.
Wie schwillt und wölbt sich, wächst sein praller Bauch,
hält mit den Wolkentreibern Morgenmesse!
Am Steigen spürt er höchstes Interesse,
am Steigen und am Spiel dort oben auch.
Und immer mehr und immer mehr verlässt
den Schlot, befreit aus schwelendem Arrest,
entflieht zu fernen Wolkenkameraden.
Hinan, hinan, derweil die ersten Flocken
sich auf die Dächer und ans Fenster hocken.
Noch gestern schwamm die Welt in Nebelschwaden ...


15.  Über Nacht ward Winter


Noch gestern schwamm die Welt in Nebelschwaden,

gleich hinterm See, dort bei den wilden Schlehen.
Durch jene Schleier war fast nichts zu sehen;
die Spuren schwanden auf vertrauten Pfaden.
Wie Pfeile zogen himmelweit Nomaden.
Ihr Schrei war bis zum Waldrand zu verstehen.
(Er war vielleicht auch Abschiedsgruß an Krähen)
Vor Wochen schon verstummten die Zikaden.
Die Dämmerung bedeckte Schwan um Schwan;
ein wenig rüttelte der Wind am Kahn,
dem Nebel folgte kalter Morgenhauch.
Er überzog den See mit zartem Eis.
Nun ist die Welt wie's Schwanenpaar so weiß!
Aus den Kaminen wölkt ergrauter Rauch.